Mit dem 25. Heidelberger Ernährungsforum hat die Dr. Rainer Wild-Stiftung im Rahmen einer Online-Jubiläumsedition 2021 eingeladen – mit einem Blick zurück – weiterzudenken und aktuelle Herausforderungen zu gestalten. Am 24. und 25. September 2021 entwarfen 210 Teilnehmende und 16 Referierende verschiedenster Disziplinen gemeinsam Zukunftsbilder für eine gesunde Ernährung.
Es braucht zielorientiertes, einiges Handeln: Jetzt und gemeinsam!
„Die Vision des Gründers Prof. Dr. Rainer Wild, den interdisziplinären Diskurs zu gesunder Ernährung zu fördern und dabei die Vielfalt der Themen und Akteure mitzudenken, ist heute relevanter und wichtiger denn je“, sagte Dr. Silke Lichtenstein in ihren Grußworten. Sein Leitbild begriff bereits vor 30 Jahren das Totalphänomen gesunde Ernährung umfassend und interdisziplinär, wie es der heutigen Maßgabe entspricht. Dass das seinerzeit noch grundliegend anders war, wurde im Laufe des Tages noch viele Male bestätigt.
Der gegenwärtige Anspruch an Lebensmittel: gesund und lecker muss es sein!
„Der heutige Auftrag an die Sensorik-Forschung ist, Gesundheitsförderung und Genuss zu vereinen“, so Dr. Karolin Höhl. Ein Beispiel sei die Umsetzung der britischen Reformulierungsstrategie. Dort kamen nach Einführung der Zuckersteuer in Rezepturen von Softdrinks Süßstoffe zum Einsatz, um den Zuckergehalt zu reduzieren und trotzdem die Akzeptanz zu gewährleisten. Die Zukunft der Sensorik-Forschung sieht Höhl z.B. in der Entwicklung sensorisch optimierter Produkte für verschiedene Gen- und Stoffwechseltypen im Rahmen von Personalized Food oder als Beitrag bei der Entwicklung alternativer Produktionstechniken und Nahrungsquellen.
Das Geschmacksmotiv ist im Individuum fest verankert
Der persönliche Geschmack, den Höhl als kulinarischen Geschmack bezeichnet, sei keineswegs gesetzt, sondern entsteht im Laufe des Lebens. Prägend seien sowohl innere Faktoren wie Emotionen als auch äußere Einflüsse wie Vorbilder, Traditionen oder Trends. So etablierten sich beispielsweise derzeit Bitterstoffe neu, nachdem sie über lange Zeit aus Obst und Gemüse herausgezüchtet worden waren. Höhls Fazit: „Der kulinarische Geschmack ist ein heftig verteidigter, privater Bereich, der berücksichtigt werden muss.“
Neu und Alt: Lebensmittel-Qualität schließt in der Lehre Ökologie und Genusswert mit ein
Das bereits Anfang der 1980er Jahre etablierte Konzept der Gießener Vollwerternährung berücksichtigte neben Gesundheit auch die Auswirkungen der Ernährung, etwa auf die Umwelt oder im Hinblick auf gesellschaftliche oder ökonomische Strukturen. Daraus entstand das interdisziplinär-wissenschaftliche Fachgebiet Ernährungsökologie. „Der Reformulierungsansatz sollte nicht das einzige Instrument sein, um Genuss und gesundheitsförderliche Ernährung zu vermitteln“, meint Dr. Cornelia Klug. So sei das Ziel des Studienangebots „Food Management“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn, Betriebswirtschaft, Nachhaltigkeit und Kulinarik zu verbinden. Neben den Aspekten „Vom Acker zum Teller“ und „Nachhaltigkeit“ werden Sinn für Lust und Genuss sowie für Kultur und Tradition vermittelt.
Alt und doch neu
Alkoholfreie Getränke sind von der Notlösung für Autofahrer zum Lifestyle-Getränk geworden. „Das Lebensmittel und der Genuss müssen heute einen Wert haben“, meint Klug. Deshalb ist die Hochschule wissenschaftliche Partnerin des Forschungsprojekts Weinnova, mit dem die Entwicklung und Vermarktung alkoholarmer und alkoholfreier Weinprodukte bearbeitet werden.
Über den Wert von Genuss: Teil von Gesundheit und kein Gegensatz
Sowohl in der WHO-Definition von Gesundheit als auch in den Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist Genuss verankert. Daher ist der Aspekt Genuss Teil von Gesundheit und somit „von jeher Teil der Stiftungsarbeit“, so Dr. Silke Lichtenstein und Jana Dreyer. Weil der Genuss-Wert dennoch oft ignoriert oder dessen Wertigkeit sogar in Frage gestellt wird, setzte sich die Stiftung bereits 2008 mit dem Wert von Genuss wissenschaftlich auseinander. Die Ergebnisse sind in einem Themenpapier publiziert. Darauf baut eine aktuelle Studie auf, die sich umfassend mit Werten und Wertschätzung in der Ernährung beschäftigt. Werte sind individuell, aber auch gesellschaftlich verankert, zudem ist das Bekenntnis zu Werten Teil der Alltagskultur, auch in der Ernährung.
Der Mensch als spezialisierter Generalist
Prof. Hannelore Daniel nimmt die Teilnehmenden mit auf die Spurensuche nach der (einzigen) richtigen Ernährung. Wir blicken heute auf die Jetzt-Zeit mit zwei bis drei Generationen, jedoch mit dem evolutionsbiologischen Hintergrund von über eine Million Generationen. Der Mensch hat alle Kontinente und Klimazonen mit ihren unterschiedlichen Nahrungsangeboten erschlossen und dabei war nie die „richtige Ernährung“ eine evolutionäre Einflussgröße. Ernährung, insbesondere die Proteinaufnahme war ein wesentlicher Faktor für Überlebensfähigkeit und Fortbestehen der Menschheit.
Proteinzufuhr von heute nachteilig für Gesundheit und Umwelt
Heute essen wir mehr Protein als wir benötigen und „der Trend zu Proteinanreicherung von Lebensmitteln macht mir wissenschaftlich einige Sorgen“, führt Daniel aus. So sind eine hohe Proteinzufuhr im mittleren Alter assoziiert mit Gesamtmortalität, Krebs, Diabetes. Zudem führt der Mehrverzehr zu Extra-Stickstoff, der in die Umwelt entlassen wird.
Gesundheit über alles?
Beginnend mit der Epoche der Ursachenforschung, über die Versorgungsforschung betreiben wir heute Gesundheitsforschung. Die Wissenschaft sucht die Gesundheit, die oft über Genuss gestellt wird. Gesunde Ernährung wird, wie ein gesunder Lebensstil, zur moralischen Pflicht des Individuums und jedes einzelne Lebensmittel wird unter dem Aspekt Gesundheit ausgelobt, ähnlich wie die Bundesliga gewertet: „Derzeit führt Kaffee, Schokolade holt auf, Rotwein schwächelt. Diese Entwicklung finde ich befremdlich, gefährdet sie doch auch die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft“, stellt Daniel fest.
Überzeugende Evidenz für Nicht-Rauchen, Bewegung und Mediterrane Ernährung
Wissenschaftliche Studien zeigen jedoch einen deutlich stärkeren Einfluss weiterer Lebensstilfaktoren, wie Rauchen und Bewegung auf die Lebenserwartung. Dagegen ist der Effekt einer qualitativ hochwertigen Ernährung (bewertet nach dem Healthy Eating Index) dagegen mit maximal zwei bis fünf zusätzlichen Jahren deutlich geringer. „Heute haben wir eine überzeugende Evidenz für die Mediterrane Ernährung, die zudem geeignet ist, viele der neuen Werte, wie Umweltaspekte und Genuss, zu vereinen, denn schon der Genuss allein hat Qualität und sollte nicht vergessen werden“, resümiert Hannelore Daniel.
Ernährungsrisiken einordnen und Missverständnisse klären
Die adäquate Risikokommunikation ist eine wichtige Aufgabe des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). Ziel ist es, die Kluft zwischen objektiver Bewertung und subjektiver Wahrnehmung bei Verbrauchenden zu reduzieren, erläutert Dr. Mark Lohmann. Auf dem Fundament umfassender Verzehrs- und Gehaltsdaten von Lebensmitteln sei der Fokus auf die Exposition zu lenken und weniger auf das Gefährdungspotenzial. Eindrucksvolles Beispiel sind Glyphosat-Rückstände in Bier: Um gesundheitlich bedenkliche Mengen an Glyphosat aufzunehmen, müsste ein Erwachsener 1.000 Liter am Tag trinken. Auch gelte es, Herleitung von Grenzwerten (nicht: giftig oder ungiftig) sowie die hohe Sensitivität der chemischen Analytik zu erläutern.
Pflanzenschutzmittelrückstände überschätzt, Hygiene im Haushalt unterschätzt
Die Diskrepanz zwischen Risikowahrnehmung in der Bevölkerung und Risikobewertung durch das Institut zeigen die BfR-Verbrauchermonitore. Aktuell werden als größte Sorgen Antibiotikaresistenzen, Mikroplastik und Reste von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln genannt. Vergleichsweise und zu Unrecht wenig besorgt sind Verbrauchende bei der Lebensmittelhygiene im eigenen Haushalt.
Die Romantisierung der Wirklichkeit
Psychologische Faktoren der Risikowahrnehmung (Kontrollierbarkeit, Betroffenheit), die Wahrnehmung „natürlich bedeutet sicher“ und eine tendenziell risikolastige Berichterstattung in den Medien kommend erschwerend hinzu. „Die Zukunft sehe ich in der personalisierten Risikokommunikation“, so Lohmann abschließend.
Neue Ernährungsarmut in Deutschland: Nicht immer ist das Zuviel das Problem
Als aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen führt Dr. Peter von Philipsborn Überernährung, aber auch die hohe Prävalenz von Essstörungen an sowie finanzielle Hürden, die eine ausgewogene Ernährung erschweren. Zudem ist das Bewusstsein für die ökologischen und tierethischen Dimensionen von Ernährung gestiegen.
Die Antwort der Politik hat sich geändert: Politisches Handeln statt Problemlösung
1992 wurden bei der International Conference of Nutrition Themen wie Übergewicht und Adipositas überhaupt nicht und Umweltschutz nur am Rande erwähnt, beschreibt von Philipsborn. Erst beginnend mit dem Jahr 2014 wurden Gesundheit und Nachhaltigkeit gemeinsam auf die politische Agenda gesetzt, zunächst in Absichtserklärungen, dann in Zukunftsszenarien. Heute wird mit Evidenzsynthesen, wie im Eat-Lancet-Report und aktuell im Sachstandsbericht des Weltklimarats in einer umfassenden Perspektive die Notwendigkeit politischen Handelns anerkannt.
Evidenzgrundlage und fachliche Expertise als Basis für Debatten und Entscheidungen
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung denkt heute, dass politische Entscheidungen wissenschaftsbasiert sein sollten. „Diese Erwartungen der Bevölkerung sind ein Auftrag an die Politik“, so von Philipsborn. Wichtig seien zudem Engagement und sachlicher Dialog, denn „wir können alle voneinander lernen“.
Für Wirtschaft und Handel ist Deutschland heute nicht mehr der Wachstumsmarkt
Im Rahmen der Pandemie sei die große Bedeutung von Wirtschaft und Handel für die Nahrungs- und Ernährungssicherung in Deutschland deutlich geworden, so Dr. Karin Bergmann einleitend. Aber: Der fünftgrößte Industriezweig schwächelt zunehmend. Bei den überwiegend mittelständisch geprägten Strukturen entwickeln sich Umsatz und Anzahl der Unternehmen je nach Branche unterschiedlich. Im Backgewerbe erzielen heute weniger Unternehmen mehr Umsatz, während in der Milchwirtschaft die Zahl der Unternehmen wie auch der Umsatz sinken.
Herausforderungen: Hohe Regulationsdichte, Kostendruck und Innovationshemmnisse
Ein Beispiel seien die umfassenden Maßnahmen von Unternehmen wie Danone, Nestlé, Friesland und Coca-Cola zur Reformulierung von Lebensmitteln mit dem Ziel der Reduktion von Zucker-, Salz- oder Fettgehalten in verarbeiteten Produkten. Auflagen, aber auch steigende Anforderungen der Verbrauchenden an die Produkt- und Prozessqualität erhöhen Kosten, wobei der Preiszahlungswille nicht parallel mit wächst.
For Future: Wir müssen reden und handeln
Klimapolitisch handeln und offen reden über wahre Preise, Verbesserungen der Ernährungsqualität bei schlecht erreichbaren Gruppen, Gemeinwohl, Umverteilung und Energiewende, fordert Bergmann abschließend und appelliert, auf die junge Generation zu hören. Jedoch sollte „Transformation stets mit Blick auf die Wirtschaft erfolgen, denn hier werden die Gewinne erzielt, die in die Ökologie einzahlen.“
Stellenwert der Ernährung hat enorm zugenommen
Zur Rolle der Ernährungsfachkräfte in Beratung und Therapie sprechen der Ernährungsmediziner Prof. Dr. Christian Sina, Uta Köpcke (VDD) und Dr. Andrea Lambeck (VDOE). Sie alle begrüßen, dass das Randthema „Ernährung“ es heute zu deutlicher Wahrnehmung in Politik, Ausbildung, Wissenschaft, Krankenhäusern, bei Patienten und Verbrauchenden geschafft hat. Aber: „Es sind sehr viele, die über Ernährung reden – Oecotrophologen und alle Ernährungsfachkräfte müssen sich hier stärker positionieren“, meint Lambeck. Sina fordert, den Enthusiasmus der jungen Generation und die starke Nachfrage der Patienten mit dem zusammen zu bringen, was schon da ist. Und: „Ernährung muss in das Curriculum Medizinischer Fakultäten, also stärker in der Ausbildung verankert werden“. Köpcke wünscht sich, dass die Therapie mehr auf den Menschen zugeschnitten wird.
Schulterschluss zwischen Forschung und Ernährungstherapie
Wir brauchen mehr Strukturen an den Hochschulen, dem Ort der Forschung und Evidenzgenerierung. Dort ist die finanzielle Ausstattung der Vorhaben heute recht gut, aber es mangelt an infrastrukturellen und personellen Ressourcen. Zu wenige Ernährungswissenschaftler, -mediziner gehen in die Forschung, auch das führt zu einem Mangel an evidenzbasierten Studien. „Angesichts vielfältiger Studienabschlüsse benötigen wir klare Kompetenzstandards und Standards für die Ernährungstherapie“, fordert Köpcke.
Mehr Interprofessionalität, Interesse der Politik und Zukunftsthemen
Mehr Interprofessionalität steigert Qualität und Kosteneffizienz. Gutes Beispiel seien hier die Ernährungsteams in Kliniken. Das „Heilmittel Teller“ werde in Kliniken oft ausgelagert und damit fehle die Schnittstelle zu den Köchen, kritisiert Köpcke. Zudem braucht es größeres Interesse der Politik. Sina nennt hier die Etablierung eines „Nationalen Zentrums für Ernährung“, um Gesundheit und Ernährung – die derzeit zwei verschiedenen Bundesministerien zugeordnet sind – zusammenzubringen. Mit Blick auf die Ernährungsumgebung bemängelt er: „Einerseits existieren viele werbliche Aussagen zu Lebensmitteln mit fragwürdigen Inhalten, andererseits haben wir hier deutliches Innovationspotenzial – aber Health Claims sind schwer zu bekommen.“
Vielfältige Herausforderungen einer nachhaltigen Ernährung
Diese erläutert Dr. Gesa Busch anhand der „Big Four“ einer nachhaltigen Ernährung des WBAE-Gutachtens, die zusammen und global gedacht werden müssen. Ein Drittel der weltweiten Klimagase stammen aus der Lebensmittelproduktion, wobei 70 Prozent auf Landwirtschaft und Bodennutzung entfallen. Durch Umstellung auf eine pflanzenbasierte Kost (35 bis 50 Prozent weniger Fleisch von Wiederkäuern) sind die Emissionen um 40 bis 50 Prozent reduzierbar. Auch die Ansprüche an einen ethisch korrekten Umgang mit Nutztieren sind gestiegen. Über 90 Prozent der Bevölkerung stimmen der Aussage zu „Wenn wir Tiere nutzen, sollten wir ihnen ein gutes Leben ermöglichen“, und „wir dürfen sie nutzen.“ Eine weitere Herausforderung ist die „Konsumenten-Bürger-Lücke“, also die Diskrepanz zwischen Konsumverhalten und Einstellungen. Zwar befürworten 80 Prozent eine bessere Form der Tierhaltung, doch der Markanteil von Bio-Fleisch liegt derzeit bei nur 1 bis 2 Prozent. Ursachen sind u.a. ein Ohnmachtsgefühl gegenüber der Effektivität des eigenen Handelns, aber auch Fehler und Versäumnisse auf der Angebotsseite, wie fehlende Kennzeichnung.
Food: ein Trendthema der Jugend
Die Pandemieerfahrung zeigt, dass die Aspekte Regionalität, Umwelt- und Tierschutz bei jungen Erwachsenen an Bedeutung gewonnen haben. Die zukünftigen Entscheider praktizieren zu 12 Prozent eine fleischlose, ein Viertel eine flexitarische Ernährung. Starke Treiber dieser Entwicklung sind ein besseres Wohlgefühl, eine kritische Einstellung gegenüber der Fleischwirtschaft und heutigen Tierhaltung sowie Umweltschutz. Eine gute Basis ist, dass sich mit knapp 90 Prozent fast alle jungen Erwachsenen für Essen und Ernährung interessieren. „Wir sehen viele positive Signale“, so Busch abschließend, „aber auch Agrar- und Ernährungspolitik sollten lenkend eingreifen.“
Dialog mit der GenZ: digital, mit Bildern & Bewegtbild, kurz
Kerstin Wriedt erläutert anhand der Aktivitäten der „Initiative Milch“, wie diese den Dialog für die Milch mit jungen Verbrauchenden und Familien erfolgreich gestalten will. Die sogenannte Generation Z oder GenZ, das sind die Geburtsjahrgänge zwischen 1995 und 2012, informieren sich über Lebensmittel zu 56 Prozent über Soziale Medien, aber auch Familie (35 Prozent) und Freunde (27 Prozent) spielen hier als Ratgebende eine große Rolle. Trends (wie alternative Ernährungsformen, die wachsende Bedeutung von Frühstück, Rückbesinnung auf das Handwerk, Fitness- und Bodybuilding), aber auch die Motive Geschmack und Vielfalt prägen die Einstellungen der GenZ. Um diese Generation zu erreichen, bedarf es einer digitalen Präsenz und einer Community sowie einer streitbaren Offenheit als innere Haltung.
Die Milchgalaxie: Den einen Hebel gibt es nicht
Die Initiative baut inhaltlich auf den größten gemeinsamen Nenner auf: Milch ist ein ernährungsphysiologisch wertvolles Produkt und Kulturgut. Geschmack und Vielfalt bereichern unsere Esskultur. Dabei „managen wir eine Kommunikationsgalaxie“ in der Inhalte verbreitet, aufgenommen und moderiert werden. Genutzt werden die Formate Website, Fach-Dialoge, Medienarbeit, Webcast (Milch vor Ort) sowie Instagram und Influencer, „mit denen wir die Fankurve zusammenbringen.“ Unter dem Motto „Lass uns reden“, wird auch der Dialog mit Vegetariern gesucht. „Der Dialog darf nicht abreißen und wir freuen uns auf den Austausch“, resümiert Wriedt.
Speisegebote, unterschiedliche Haltungen und gesellschaftliche Diskurse
Die religiösen Speisevorschriften im Islam ergeben sich aus dem Koran, erläutert Leonie Stenske. Enthalten sind etwa das Verbot von Blut, Schweinefleisch und Alkohol sowie das Gebot des Schächtens für den Verzehr von Fleisch (das betäubungslose Schlachten durch Ausbluten). Die gesetzlichen Anforderungen für das rituelle Schlachten berücksichtigen gleichzeitig Tierwohl und Religionsfreiheit. So ist in Deutschland das Schächten grundsätzlich verboten, aber aus religiösen Gründen können unter Auflagen Ausnahmegenehmigungen erteilt werden. Um z.B. einem Metzger zu ermöglichen, seine Kunden entsprechend ihrer Glaubensüberzeugung mit Fleisch zu versorgen. Stenske berichtet aus ihrer Studie zu den unterschiedlichen Formen des Auslegens und Auslebens von islamischen Speiseregeln (innerislamische Diversität) in Ost-Deutschland. Präsent seien sehr unterschiedliche Haltungen, aber auch das lokale Angebot an sicheren Produkten schwanke stark. Unter anderem zeigt sich das in den zahlreichen verschiedenen Halal-Siegeln auf dem Markt. Ergänzend verweist Stenske auf die teils sehr hohe Einkaufskompetenz von Muslima, vor allem hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Zutatenlisten und Zusatzstoffen.
Ernährungskommunikation: Deutungshoheit der Verbrauchenden und Vielzahl von Akteuren
Prof. Dr. Jasmin Godemann erläutert, warum Kommunikation heute vielschichtiger und dynamischer ist. Die Expertenkommunikation ist heute nicht mehr von privater Kommunikation trennbar (Mediatisierung), was massive Auswirkungen auf den Umgang des Verbrauchenden mit Ernährung hat. Fakt ist, dass nicht mehr Evidenzen und Wissenschaft, sondern die persönlichen Erfahrungen Einzelner führende Relevanz haben.
Das Potenzial von Social Media wird nicht ausgeschöpft
Eine aktuelle, repräsentative Studie zu Social Media und Ernährung bei 18- bis 49-Jährigen zeigt, dass Jugendliche dem Thema gesunde Ernährung in Sozialen Medien begegnen – YouTube, Facebook, Instagram sind die am häufigsten genutzten Informationsquellen. Wichtige Attribute sind dabei: Glaubwürdigkeit, Fakten, Vertrauenswürdigkeit und Quellenangaben. Gesucht werden die Aspekte Gesundheit und Geschmack. Einfluss haben nicht nur Influencer und Blogger, sondern auch Freunde und Eltern. Godemann schließt mit einem Plädoyer für die sozialwissenschaftliche Forschung: „Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie interpretiert wird und weniger darauf, was kommuniziert wird.“
Politische Prozesse zur Zukunft der Ernährung
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat alle Staaten der Welt eingeladen, den Food Systems Summit im September 2021 aktiv mitzugestalten, um einen Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu leisten. Für Deutschland entwickelten im Juni 2021 Experten in einem Workshop Zukunftsbilder für nachhaltige Ernährungssysteme, über den Dr. Margareta Büning-Fesel berichtet. Dort wurde festgehalten, dass es eine ganze Reihe von pflanzenbetonten Ernährungsweisen mit Potenzial für Nachhaltigkeit gibt, die sich alle durch einen deutlichen höheren Anteil an vielfältig zusammengesetzten, wenig verarbeiteten Lebensmitteln und einen geringeren Anteil an (rotem) Fleisch und Milch/-produkten auszeichnen. Diese „Planetary Health Diet“ funktioniere aber nur zusammen mit einer Halbierung der Lebensmittelverschwendung bis 2030. Ein weiterer Ansatz ist, mehr pflanzenbasierte Ernährung verfügbar, erreichbar und bezahlbar zu machen.
Denken in Kreisläufen, Bildung und Dialogprozesse
Dialogprozesse, die alle Gruppen mit einbeziehen, zufriedene Landwirte, die in der Gesellschaft wertgeschätzt werden oder Bildung für nachhaltige Ernährung in allen Lebens- und Lernphasen sind einige der entwickelten Zukunftsbilder 2030. Als wesentliche Handlungsfelder benennen die Experten: Einigkeit und Klarheit in den Zielen und einen Aktionsplan, das Einbeziehen aller gesellschaftlichen Gruppen, die Stärkung einer ökologischen, standortgerechten und sozialverträglichen Landwirtschaft, Beiträge von Handel und Verarbeitung sowie das Denken in Kreisläufen.
Die Gelegenheit, etwas Wunderbares für uns selbst zu schaffen
„Ich finde es bemerkenswert, was in Deutschland passiert“, sagt Büning-Fesel und verweist auf eine Vielzahl weiterer, im Dialog entwickelter Empfehlungen aus unterschiedlichen Bereichen (Zukunftskommission Landwirtschaft, bvmd Bundesvertretung der Medizinstudierenden), die mit ihrer inhaltlichen Übereinstimmung überzeugen. „Es ist vieles da, nun ist die Umsetzung gefragt“, schlussfolgert Büning-Fesel. Aus ihrer Sicht hätten Veränderungen der Kita- und Schulverpflegung aktuell die größte Hebelwirkung.
Keine Bevormundung, sondern im Dialog mit den Lernenden
Ernährungs- und Verbraucherbildung (EVB) dient von jeher der Befähigung zu einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung und leistet einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, stellt Prof. Dr. Silke Bartsch fest. Im Modellprojekt Revis wurde bereits 2005 ein fachdidaktisches Konzept mit den Handlungsfeldern Konsum, Ernährung und Gesundheit entwickelt. Der Food Literacy-Ansatz löste die Ernährungserziehung ab, wurde auch von der Fachgruppe Ernährungsbildung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aufgegriffen. Er wird durch fachdidaktische Auseinandersetzung weiterentwickelt.
EVB kann dazu beitragen, Gegenwart und Zukunft zu gestalten
In schulischen Curricula ist Ernährungsbildung in verschiedenen Fächern verankert (Biologie, Geografie u.a.) oder Thema für Querschnittsaufgaben, wie Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Prävention und Gesundheit oder Globales Lernen. Jedoch hängt die Umsetzung stark von der Professionalität der Lehrperson ab. Verbesserungsbedarf gibt es vor allem in der Ausbildung von Pädagogen und Erziehern, da oft ernährungsbezogene Inhalte fehlen oder ein Randthema darstellen. Auch die geringe Teilnahme an Fortbildungen sei Teil des Problems. „Ernährungsbildung ist als eine dauerhafte Bildungsaufgabe zu verstehen, wird heute aber oft als Antwort auf alle Ernährungsprobleme verstanden“, bemerkt Bartsch.
„Es war uns ein Fest, sie durch diese Jubiläumsveranstaltung zu begleiten“, sagte Jana Dreyer abschließend, die die Veranstaltung moderierte. Dr. Silke Lichtenstein verweist bereits auf das nächste Heidelberger Ernährungsforum: „Die Dr. Rainer Wild-Stiftung lebt von Ihrer Expertise, Erfahrung und dem Willen zum Wandel – lassen Sie uns weiter im Austausch bleiben.“
(Quelle: Dr. Rainer Wild-Stiftung)