Früher im Jahr als gewohnt lockte am 25. und 26. März 2022 die Dr. Rainer Wild-Stiftung ihr Fachpublikum zum 26. Heidelberger Ernährungsforum vor die Bildschirme, um online über die sogenannten „Ernährungsumgebungen“ zu diskutieren. Als Neuheit wurde eine „Flaniermeile“ geboten, in der es zu erfahren gab, wie sich Kunst, Wissenschaft und Gemeinschaftsgastronomie mit dem Thema auseinandersetzen. Dass es sich lohne, dezidiert und aus verschiedenen Blickwinkeln über Ernährungsumgebungen zu diskutieren, daran ließ Dr. Silke Lichtenstein, Geschäftsführerin der Dr. Rainer Wild-Stiftung, keinen Zweifel.
Lichtenstein hob ferner die Parallele zwischen dem wissenschaftlich definierten Begriff „Ernährungsumgebungen“ und den „6 Ws der gesunden Ernährung“ im Leitbild der Dr. Rainer Wild-Stiftung hervor. Sie erinnerte daran, dass, mit Blick auf zunehmend diverse Lebensentwürfe und eine wachsende soziale Ungleichheit, die theoretische Engstellung die sehr variable und komplexe Realität der Alltagspraktiken deutscher Haushalte verfehle. Es brauche ein umfassenderes und auf die Wirklichkeit ausgerichtetes Verständnis von fairen und gesunden Ernährungsumgebungen, das an den richtigen Stellen zu vereinfachen sei.
Könnten Verbrauchende faire Ernährungsumgebungen überhaupt durchdringen?
Ob Verbrauchende die fairen Ernährungsumgebungen überhaupt durchdringen könnten, diese Frage stellte Prof. Dr. Gunther Hirschfelder in seinem Einführungsvortrag. Er verwies auch auf parallel existierende analoge Räume und virtuelle Umgebungen, die oft als „Wohlfühlräume“ einfache Lösungen versprechen – die aber mit der Realität wenig zu tun haben. Ernährungspraktiken verlaufen zirkulär und sind verwoben mit Praktiken anderer Lebensbereiche, weswegen Hirschfelder abschließend die Frage in dem Raum stellte, ob faire beziehungsweise gesunde Ernährungsumgebungen nicht doch eine Chimäre sind.
Prof. Ulrike Arens-Azevêdo fasste die wissenschaftlichen Grundlagen zur Transformation des Ernährungssystems zusammen. Ausgehend von den 17 Sustainable Development Goals erläuterte sie daraus abgeleitete Indikatoren und schließlich die Handlungsempfehlungen für die „Big Four“ fairer und gesunder Umgebungen, Gesundheit, Soziales, Umwelt, Tierwohl. Deswegen sind bei der Fülle an Zielgrößen auch Zielkonflikte unvermeidlich, und nicht nachhaltig, sondern nachhaltiger ist die klügere Bezeichnung. Bezogen auf Gesundheit erinnerte Arens-Azevêdo an salutogene Aspekte wie Wohlergehen und verbesserte Lebensqualität, die auch zu berücksichtigen sind.
Fehlernährung: Es geht nicht nur um Inhaltsstoffe, sondern auch um den Verarbeitungsgrad
Dass es im Hinblick auf die gesundheitlichen Folgen durch Fehlernährung nicht nur um Inhaltsstoffe wie Salz, Zucker oder Fett gehen sollte, sondern auch um den Verarbeitungsgrad von industriell produzierten Lebensmitteln („ultra-processed food“), darüber berichtete Prof. Dr. Dr. Anja Bosy-Westphal. Sie stellte die Klassifikationssysteme dar und erläuterte die Zusammenhänge zwischen hohem Konsum und erhöhtem Krankheits- beziehungsweise Sterblichkeitsrisiko. Als krankheitsauslösende Mechanismen werden beispielsweise die Matrix und eine weiche Textur diskutiert.
Mithilfe des „One Health“-Ansatzes verdeutlichte Dr. Eleonore Heil, dass eng gestellte Sichtweisen nicht zur nachhaltigeren Ernährung führen, etwa berücksichtige die „Planetary Health Diet“ soziale Aspekte und Phänomene nicht angemessen. Die Ernährungsversorgung muss auf allen Ebenen des Alltags betrachtet werden. Als erfolgsversprechenden Ansatz stellte Heil das Konzept „Living Labs“ vor. Hier hob sie die Relevanz der Reflexion von individuellen Werthaltungen bezüglich Ernährung und eines sicheren Umgangs mit Zielkonflikten hervor. Das brauche Zeit, trage aber zur Stärkung des Selbstwirksamkeitsempfindens, und somit zur ernährungsbezogenen Resilienz bei.
Auch die unterschiedlichen Konsummotive müssen stärker berücksichtigt werden
Prof. Dr. Jana Rückert-John gab zu bedenken, dass nicht nur das beobachtete Verhalten, sondern die unterschiedlichen Konsummotive, die Werthaltungen der Menschen, stärker berücksichtigt werden müssen. Sie führte an, dass Ernährungspraktiken in den Alltag eingebettet sind, stark Gewohnheiten unterliegen und Essen meist wenig reflektiert wird. Entscheidend ist für den Wandel des Ernährungsalltags, dass Angebote und Strukturen alltagsadäquat sind und der soziokulturellen Vielfalt einer diversen Gesellschaft von heute gerecht werden. Letztlich sei aber nicht nur der äußere, sondern auch ein innerer Wandel gefragt, dann könne die Neugestaltung von Ernährungsumgebungen eine Chance sein.
Ihre wissenschaftlich erhobenen Datensätze ergänzte Dr. Julia von Mende mit expliziten Zeichnungen der untersuchten Essensräume. Küche stelle sich teilweise als Work-Life-Blending mit vielen Varianten dar, denn eigene Speisenzubereitung und genussvolles Essen sind laut ihrer Studie zur Sehnsuchtsvorstellung geworden. Vor allem aber spiele Zeitmangel bei allen Handlungen rund ums Essen eine dominierende Rolle.
Dr. Hanna Augustin bekräftigte, dass zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut, nach Augustin besser: Ernährungsunsicherheit, unterschieden werden muss. Der limitierte physische beziehungsweise ökonomische Zugang zu nahrhafter, gesundheitlich sicherer Nahrung ziehe für die Betroffenen auch mangelnde alimentäre Teilhabe nach sich. Deswegen braucht es nicht nur den gesicherten Zugang zu sozialökologisch hochwertigen Lebensmitteln, sondern auch Bildung beziehungsweise Beratung, um mit knappen Budgets „haushalten zu können“, so Augustin.
Bedeutung einer integrierten Bildungs- und Ernährungspolitik
Prof. Dr. Ines Heindl betonte die Bedeutung einer integrierten Bildungs- und Ernährungspolitik, die die „Allianz zwischen Lern- und Bildungsraum Schule“ berücksichtigt. Allein Ernährungskunde im Lehrplan ist keine Option, denn „das Produkt auf dem Teller verwandelt sich in ein Kulturprodukt“. Mit den Fragen „Was? Wie? Wann? Wo? Mit wem?“ lässt sich Ernährung innerhalb eines geschützten Bildungsraumes verhandeln und die Schüler getreu der Devise „Mach“ die gesunde Wahl zu einer leichten Wahl zu gesundheitlich günstigeren Ernährungsweisen befähigen.
Prof. Dr. Melanie Speck zeigte auf, dass das Reduktionspotenzial durch veränderte Essgewohnheiten in Deutschland bei etwa 49 Prozent liegt. Immer muss die gesamte Wertschöpfungskette, von Produktion bis Konsum, betrachtet und die Effekte auf die Zielgrößen laufend abgeglichen werden. Die Gemeinschaftsgastronomie nannte Speck als besonders „wirksamen Hebel“. Sie warnte davor, eine „Wohlfühlnachhaltigkeit“ zu suggerieren. Ebenso kontraproduktiv seien Angriffe auf Akteure wie Produzenten, weil die desolate Lage auch durch falsche politische Anreize hervorgerufen worden sei. Preisliche Steuerung eigne sich eher als „erster Schritt“, weil sie nur eingeschränkt richtungssicher und nicht partizipativ wirke.
Zunehmend wichtig: Rolle der Gemeinschaftsgastronomie hinsichtlich fairer, gesunder Ernährungsumgebungen
Auch Prof. Dr. Stephanie Hagspihl verwies auf die zunehmend wichtigere Rolle der Gemeinschaftsgastronomie hinsichtlich fairer und gesunder Ernährungsumgebungen. Die größte Herausforderung ist allerdings die gestiegene Nachfrage und ein immer stärkerer Kostendruck für Wareneinsatz und zuvorderst Beschaffung, sowie Entwicklung von Personal. Mit Blick auf die Zukunft des „Hebels“ bringen nach Hagspihl aber nicht höhere Entgelte die Lösung. Dringend gebraucht sind die Neuordnung der beruflichen Aus- und Weiterbildung und geeignete Maßnahmen, um Fachkräfte zu gewinnen, im Beruf zu halten beziehungsweise zurückzuholen.
Dass Deutsche mehr staatliche Regulative in Bezug auf Ernährung verlangen als Österreich und die Schweiz, zeigte Prof. Dr. Christine Brombach unter anderem in der EssZuk-Studie. Vor dem Hintergrund einer zu großen Auswahl an Lebensmitteln bestand der einheitliche Wunsch nach einer länderübergreifenden Kennzeichnung. Im Hinblick auf Ernährungs- und Bildungspolitik bekräftigte Brombach wiederholt die Relevanz integrierter Strategien und betonte die Wichtigkeit des Zusammenspiels aller Beteiligten in Bildung, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Daseinsfürsorge in Deutschland
Für die Daseinsfürsorge in Deutschland sind nach wie vor überwiegend Frauen zuständig, stellte Prof. Dr. Angela Häußler fest. Dazu ergänzte sie, dass Frauen durch die Verantwortlichkeit und höhere ernährungsbezogene Normativitätsansprüche den höheren „Mental Load“ haben. Um fair und gesund realistisch abzubilden, müssen die wissenschaftlichen Empfehlungen die Positionen aller sozialen Gruppen berücksichtigen. Dem Publikum gab Häußler mit: „Faire Ernährungsumgebungen bewerten bezahlte und unbezahlte Arbeit gleich und schaffen keine neuen Ungleichheiten“.
(Quelle: Dr. Rainer Wild-Stiftung)